Wie ChatGPT bei EZB-Prognosen hilft

Wir lassen ChatGPT mehrere tausend Reden der EZB-Ratsmitglieder interpretieren und als taubenhaft oder falkenhaft klassifizieren.

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Dr. Marco Wagner

Commerzbank Economic Research

26. Juli 2024

Unser daraus gebildeter neuer "ChatECB-Indikator" stützt unsere Prognose, dass die EZB die Zinsen in den kommenden Quartalen weiter – allerdings in moderatem Maß – senken wird.

Unser neuer "ChatECB-Indikator" ...

Ein wichtiger Baustein für unsere EZB-Zinsprognose – neben Makrodaten und Modellen – ist die Stimmung im EZB-Rat. Diese versuchen wir aus den Reden und Interviews der EZB-Ratsmitglieder abzuleiten, indem wir deren Kommentare als "taubenhaft" oder "falkenhaft" interpretieren, was auf unseren Erfahrungswerten beruht. Zukünftig werden wir für die Analyse der EZB-Kommentare auch ChatGPT nutzen, was zwei Vorteile mit sich bringt:

  • Erstens ermöglicht uns dies, nicht nur einzelne, sondern jede der vielen Reden und Interviews in der Gesamtheit auszuwerten – seit 1999 sind dies mehr als 2800 Reden und Interviews amtierender und ehemaliger EZB-Ratsmitglieder.
  • Zweitens bietet die KI-Anwendung eine gewisse Objektivität. Die Reden und Interviews werden anhand eines konstanten Bewertungsschemas interpretiert.

Damit gelingt es, Stimmungsänderungen im EZB-Rat und mögliche Korrelationen zu Zinsänderungen über einen längeren Zeitraum grafisch darzustellen. Eine ausführliche Beschreibung unseres Ansatzes findet sich im Anhang.

... ist EZB-Entscheidungen einige Monate voraus ...

Der daraus resultierende aggregierte "ChatECB-Indikator" reicht von -1 (taubenhaft) bis +1 (falkenhaft) und signalisiert in vielen Fällen bereits etliche Monate vor der tatsächlichen Zinswende eine Änderung der Geldpolitik:

  • Nach dem Platzen der Dotcom-Blase im März 2000 wurden die Äußerungen der EZB-Ratsmitglieder taubenhafter, rund neun Monate später senkten diese die Zinsen. Mit den nachfolgenden Zinssenkungen versuchte die EZB, die europäische Wirtschaft und die Finanzmärkte vor den möglichen Folgen der Terroranschläge vom 11. September 2001 abzuschirmen.
  • Nachdem die Nachwehen der Lehman-Pleite und des Finanzmarktcrashs weitgehend überwunden waren, wurden die EZB-Ratsmitglieder ab Mitte 2009 wieder zuversichtlicher. Folglich wurde ihre Kommunikation allmählich falkenhafter, was im April in einer Zinserhöhung mündete.
  • Nur wenige Monate später breitete sich die Schuldenkrise aus und die Wirtschaft der Eurozone rutschte in die Rezession. Die Äußerungen der Notenbanker wurden wieder taubenhafter, woraufhin diese kaum ein halbes Jahr später, im November 2011, die Zinsen senkten.
  • Mitte 2013 wurden die Kommentare der EZB-Ratsmitglieder nach einer scheinbar nicht enden wollenden Rezession erneut taubenhafter – die Euroraum-Wirtschaft schrumpfte sechs Quartale in Folge um durchschnittlich 0,3% gegenüber dem Vorquartal. Gleichzeitig hatte ein disinflationärer Prozess eingesetzt: Die Inflation fiel Anfang 2013 unter 2%, ging in den Folgemonaten weiter deutlich zurück und lag Ende 2014 sogar kurzzeitig unter 0%. Die Notenbanker senkten schließlich im Juni 2014 die Zinssätze auf -0,10 % – das erste Mal in den negativen Bereich.
  • Nach fast einem Jahrzehnt niedriger – und über weite Strecken negativer – Zinssätze wurden die Zentralbanker 2021 in einem Umfeld steigender Inflationsraten deutlich falkenhafter. Es dauerte aber etwa ein Jahr, bis die EZB den Kampf gegen die Inflation aufnahm und sich zu einer ersten Zinserhöhung durchrang.

Allerdings gab es auch Phasen, in denen die EZB-Entscheidungsträger ihre Kommunikation und die Zinsen mehr oder weniger gleichzeitig änderten. Das gilt für die Zinserhöhung um den Jahrtausendwechsel und in den Jahren vor der Finanzkrise. Das liegt vor allen Dingen daran, dass sich die Präsidenten Willem Duisenberg (1998-2003), dessen Nachfolger Jean-Claude Trichet (2003-2011) oder der damalige Chefvolkswirt Otmar Issing (1998-2006) kaum zu aktuellen Entwicklungen äußerten, sondern eher Grundsatzreden über die einheitliche Geldpolitik, den Euro oder die europäische Integration hielten. Damit folgte die EZB seinerzeit der Strategie der "konstruktiven Ambiguität", mit der sie sich gegenüber den Marktteilnehmern ein gewisses Überraschungsmoment bewahrte.

Der Gleichschritt der Kommunikation und Zinssenkungen nach dem Lehman-Kollaps erklärt sich dadurch, dass die EZB-Entscheidungsträger von dem Ausbruch der Krise überrascht wurden und zum raschen Reagieren gezwungen waren.

Ansonsten fällt die hohe Volatilität des Indikators zwischen 2015 und 2020 auf. Sie lässt sich durch die Schwankungen der Inflation und der Konjunktur erklären. Weil die Inflation in diesen Jahren aber selten die 2% erreichte, hatten die Reden im Durchschnitt einen taubenhaften Tonfall.

... und deutet derzeit auf weniger Zinssenkungen hin als bisher erwartet

Angesichts des seit Ende 2022 deutlich taubenhafteren Tons der EZB-Ratsmitglieder ist wohl davon auszugehen, dass diese nach ihrem ersten Zinsschritt im Juni die Geldpolitik tendenziell weiter lockern dürften. In Anbetracht des zuletzt wieder etwas falkenhafteren Tons dürften die Entscheidungsträger der EZB die Zinsen allerdings eher vorsichtig senken. Offenbar haben die zuletzt stabil bei knapp 3% – und damit deutlich über dem EZB-Ziel – liegenden Kerninflationsraten auch bei den Geldpolitikern Eindruck hinterlassen.

Diese Wahrnehmungen spiegeln sich in den Erwartungen der Märkte wider, die ebenfalls deutlich skeptischer geworden sind, was die Geschwindigkeit und den Umfang zukünftiger Zinssenkungen angeht. Derzeit rechnen die Märkte bis zum Jahresende mit zwei weiteren Zinssenkungen und mit nur wenigen darüber hinaus, sodass Ende 2025 ein Einlagensatz von rund 2,75 % erreicht werden könnte

Den vollständigen Text finden Sie im PDF-Dokument.